Schlichters Manie

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Die Manie des Malers und Schriftstellers Rudolf Schlichter

Von dem in Stuttgart  und Karlsruhe ausgebildeten Künstler Rudolf Schlichter (1890–1955) befanden sich in der Sammlung der Staatsgalerie Stuttgart bisher zwei Gemälde, 25 Zeichnungen und Aquarelle sowie 12 Lithographien. Sie umfassen das gesamte künstlerische Spektrum, allerdings waren pointierte Einzelskizzen, speziell mit dem süffisant-erotischen Thema »Stiefel«, bisher ein Desiderat. Diese Lücke  konnte nun geschlossen werden.

Der Künstler und Autor sowie Vertreter der Neuen Sachlichkeit Rudolf  Schlichter neigte zum Masochismus. Er war praktizierender Fetischist, den u. a.  Knöpfstiefel inspirierten. In seinen Zeichnungen arbeitete er präzise heraus, was sich in diesen Bleistiftskizzen aus den späteren 1920er Jahren in der voyeuristischen Genauigkeit der dargestellten Knöpfstiefel zeigt. Für Damenschuhe hatte er ein ganz besonderes Faible. So berichtet er von der Bestellung eines Stiefelpaares für seine Frau Elfriede Elisabeth Koehler, genannt Speedy: 

»Mit einer hastigen linkischen Bewegung fuhr er in seine Taschen, kramte umständlich darin und zog endlich zum heimlichen Gaudium der Angestellten eine Anzahl bekritzelter Zettel heraus, auf denen die Form des Stiefels, Vorder- und Seitenansicht, die Form des Absatzes, der Knöpfe, des Schaftes usw. genau aufgezeichnet waren« (in: Rudolf Schlichter: Zwischenwelt. Ein Intermezzo, Berlin 1931). Seine Frau Elfriede Elisabeth Koehler, eine »Lebedame aus Genf«, war seine unentbehrliche Muse und Domina. Seine stürmische Beziehung zu Speedy enthüllte Schlichter 1931 in seinem Roman »Zwischenwelt. Ein Intermezzo«.

https://www.staatsgalerie.de/sammlung/neuerwerbungen/rudolf-schlichter.html


"Ich sah im Geiste ganze Reihen junger Mädchen mit zierlichen Knopfstiefeln an den Füßen unter dem Kommando einer harten Stimme bis zur Erschöpfung turnen“, 

So schrieb Rudolf Schlichter  in "Das widerspenstige Fleisch", Teil 1 seiner Autobiografie von 1932/33 und führt weiter aus: 

„Ein unstillbarer Durst nach der letzten nie erreichbaren Auslösung packte mich in solchen Augenblicken, ein Schwindel erfasste mein Gehirn, mit gurgelnden nicht mehr menschlichen Brunstschreien, mit tierischem Geheul rannte ich umher.“ 

„Okay“, würde ein fortschrittlicher Psychotherapeut von heute sagen: „Solange Beruf und Partnerschaft nicht darunter zu leiden haben – so what?“ Dass Schlichter aus seinen diversen sexuellen Deviationen – Fetischismus, Masochismus, Voyeurismus – Inspiration zog, ist unbestritten. Ebenso, dass er ab 1927 mit der Schauspielerin Elfriede Elisabeth Koehler, genannt „Speedy“, liiert war – wenn auch in einem höchst unbürgerlichen Rahmen. Und fest steht am Ende zudem: Mit Sensibilität und dem Mut zur schonungslosen Offenheit – sich selbst und seiner Umwelt gegenüber – wurde der vielseitig begabte Künstler zu einem Seismografen in bewegten Zeiten. 
 


"Auf mich machten besonders die Kinder jener fahrenden Leute einen tiefen Eindruck. Die zynische Frechheit, die vollkommene Ungeniertheit, mit der sich diese in buntfarbige Fetzen gekleideten, in schäbiger Eleganz paradierenden Kinder zwischen dem Volke produzierten, erregte eine unwiderstehliche mit ängstlichen Schauern vermischten Neugierde in mir. Zu gerne hätte ich gewusst, wo diese fremdartigen Geschöpfe schon überall herumgekommen waren, was für ein Leben sie hinter den geheimnisvollen Zeltwänden führten. Ich hatte oft von meiner Mutter gehört, dass solche Zirkuskinder bei ihrem Training schrecklich geplagt und barbarisch gezüchtigt würden. Ich war der felsenfesten Überzeugung, diese von mir mit heimlicher Bewunderung angestaunten Wunderkinder müssten ein wahres Märtyrerleben führen. Trotz der Furcht, die ich vor dieser unbekannten Welt empfand, fühlte ich mich doch merkwürdig zu diesen Leuten hingezogen. Ihre Gewandtheit und ihre wilde Grazie weckte in mir ein dumpfes Verlangen nach Liebkosungen, nach, unterwerfender Hingabe  Den ganzen Tag trieb ich mich in der Nähe der Buden oder der Wohnwagen umher, ich versuchte einen Blick von meinen angeschwärmten Idolen zu erhaschen oder sonst in irgendeiner Weise mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Meine Spielkameraden hatten für meine sie extravagant anmutenden Neigungen keinerlei Verständnis, obwohl auch sie sehr gerne in der Nähe der Buden herumlungerten, aber mehr aus Gründen eines allgemeinen Belustigungsbedürfnisses und aus dem Drang nach Abwechslung."  

(Textauszug aus Rudolf Schlichter: "Das widerspenstige Fleisch")

"Hatte ich bisher in gleicher Weise den Knabenschnürstiefel gerade so wie den Knopfstiefel als Objekt meiner Lust benutzt, wobei es mir in der Hauptsache auf die Form der Spitze, das weiche Leder und den prallen Sitz am Wadenansatz ankam, so konzentrierte sich jetzt mein Lustgefühl immer eindeutiger auf den Knopfstiefel, ohne dass ich die Lust an den andern Stiefelformen ganz verlor; es war zunächst einfach eine Akzentverschiebung, aber zugleich auch eine Erweiterung und Vervielfältigung des Lustbezirks. Ich begann um diese Zeit auch den Reiz des schlanken hohen Absatzes zu entdecken. Wie ich schon erwähnte, fiel mir die Schönheit solcher Absätze zum ersten Mal an den hohen gelben Stiefeln meiner ominösen Tante Wilhelmine auf und der erste Eindruck blieb fortan unauslöschlich in meinem Gedächtnis haften. Das eigentümlich Wippende, Schwebende des Ganges, das durch den hohen Absatz erzeugt wurde, die schmale zugespitzte Form des Fußes, die sich durch diese Verjüngung nach unten ins Übernatürliche steigerte, alle diese Momente erregten einen Taumel qualvollster Lust, einen Sturm wildester Leidenschaften in meinem Innern. Da ich überall, sowohl auf der Straße wie zu Hause diesen nervenaufpeitschenden Eindrücken ausgesetzt war, kam ich aus den Nöten überhaupt nicht mehr heraus. Schreckliche Bilder und Visionen verfolgten mich. Ich sah im Geiste ganze Reihen junger Mädchen mit zierlichen Knopfstiefeln an den Füßen unter dem Kommando einer harten Stimme bis zur Erschöpfung turnen; ich stellte mir vor, wie sie nach den letzten verzweifelten Anstrengungen mit konvulsivischem Zucken gleich abgeschossenen Grammetsvögeln von den Geräten herabstürzten und besudelt durch den abgegangenen Kot und Urin wie elende Häufchen Lumpen unter dem Reck oder der Streckleiter liegen blieben. Ein unstillbarer Durst nach der letzten nie erreichbaren Auslösung packte mich in solchen Augenblicken, ein Schwindel erfasste mein Gehirn, mit gurgelnden nicht mehr menschlichen Brunstschreien, mit tierischem Geheul rannte ich umher." 

(Textauszug aus Rudolf Schlichter: "Das widerspenstige Fleisch")

"Indessen machte sich bald wieder die andere, weniger angenehme Seite meiner Natur bemerkbar. Ich geriet nämlich durch den andauernden Anreiz der mich umgebenden städtischen Welt von zarten, leichten Dingen und vor allem durch die Fülle der verschiedensten Formen weiblicher Fußbekleidung, die mir allerorten in Schaufenstern und auf den Straßen in die Augen sprang, in eine Welle schwüler Erotik. Der Zustand eines ewig gereizten, nie zur natürlichen Auslösung gelangenden Sexus rief schreckliche, langandauernde Depressionen hervor; meine hypertrophierte Sinnlichkeit nahm groteske Dimensionen an, erzeugte einen bunten Wust der absurdesten Wünsche und erweckte zwangsläufig den Wunsch nach den abscheulichsten Exzessen. Zunächst konzentrierte sich mein Verlangen, da es das nächstliegende Objekt war, auf meine Schwester Gertrud. Oft saß ich stundenlang bei ihr oder ich half ihr in der Küche, nur um den Anblick ihrer mit zierlichen Knopfstiefeln bekleideten Füße zu genießen." 
(Textauszug aus Rudolf Schlichter: "Das widerspenstige Fleisch")

"Weil aber solches Beginnen keineswegs eine Befreiung von der brennenden Begierde brachte, sondern die nervenzerreibende, energiezerstörende Unruhe ins Uferlose steigerte, kam ich auf den Gedanken, einfach die Objekte meiner höllischen Lust abends heimlich in mein Zimmer zu nehmen, um mich an ihn zu befriedigen. Ich schlich mich also, kaum waren Karl und Gertrud zu Bett, nach der Küche, holte mir Stiefel und Knöpfer und schloss mich mit fieberndem Gehirn in meine schmale Schlafkammer ein. Mit zitternden Händen probierte ich die Stiefel an und ein teuflischer Zufall wollte, dass sie an meinen Fuß passten wie angemessen Ich schritt einige Male im Zimmer auf und ab, um das Gehen auf hohen Absätzen recht ausgiebig zu genießen; dabei vollzog sich plötzlich eine merkwürdige Verwandlung in meinem ganzen Wesen. Ich  fühlte mich auf einmal als Mädchen, ein schreckliches Verlangen nach männlicher Gewalt ergriff mich, am liebsten hätte ich mich aufs Bett werfen lassen, bereit, jeden Missbrauch meines Körpers zu erdulden. Ich verlor mich so sehr, dass mir für Augenblicke die Erinnerung an meinen früheren Zustand völlig schwand und ich im trüben Meere einer gefährlichen alles aufsaugen weiblichen  Empfangsbereitschaft versank."  

(Textauszug aus Rudolf Schlichter: "Das widerspenstige Fleisch") 


"Es schien, als ob meine ganze männliche Willensbetontheit untergegangen wäre in dem einen Wunsch, Gewalt zu erleiden. Obgleich ich keine genaue  Vorstellung von den Dingen hatte, die bei der Vereinigung der beiden Geschlechter vor sich gingen, erschrak ich doch vor den Konsequenzen meines Wunsches, eine fürchterliche Angst ergriff mich, mich ganz in diesem Ozean verkehrter Lüste zu verlieren. Heiße Scham überfiel mich plötzlich bei den blitzartig. auftauchenden Gedanken, was wohl Winnetou oder Old Shatterhand oder sonst einer meiner Helden dazu sagen würden, wenn Sie mich in diesem Zustand vom Jenseits aus beobachteten. Voller Ekel riss ich die Stiefel wieder herunter und brachte sie leise nach der Küche Ich gelobte mir nie wieder. Einer derartigen Schwäche. Ich gelobte mir, mich nie wieder einer derartigen Schwäche zu überlassen und schlief, durch diesen festen Vorsatz getröstet, in bleierner Ermattung bis in den hellen Morgen. Aber der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.  Schon am übernächsten Abend brach ich mein feierliches Gelübde und ergab mich hemmungslos meiner heimlichen Ausschweifung."
 (Textauszug aus Rudolf Schlichter: "Das widerspenstige Fleisch")



"Von jenem verhängnisvollen Tage an frönte ich jede Woche so ungefähr 2 – 3 Mal meinem Laster, dazwischen hinein von schweren Gewissensbissen aufs Heftigste gepeinigt. Trotzdem verlor ich keineswegs das Interesse am anderen Geschlecht, im Gegenteil, mein Verlangen nach Liebe, nach glühender, aufopferungsvoller Liebe wuchs von Woche zu Woche, von Monat zu Monat. In einem Rausch von allesverschlingender Liebesraserei wünschte ich von mir heraufbeschworene schreckliche Katastrophen, nur um Tausende von Jungfrauen meinem nimmersatten Begehren opfern zu können. Ich bohrte mein glühendes Gesicht in die leeren Kissen, mit gurgelnder Stimme stieß ich kaum mehr menschenähnliche Laute hervor; mit verderben bringenden mörderischen Küssen wollte ich die schöne weibliche Jugend der ganzen Welt in würgender Inbrunst umfassen."

(Textauszug aus Rudolf Schlichter: "Das widerspenstige Fleisch") 


https://presler.de/data/Die_Schlichters.pdf

Schon bald besuchten Rudolf und Speedy gemeinsam seine Geburtsstadt Calw. Hier trafen sie den Turmuhrenbauer Perrot, der die Begegnung später so umriss:

„Im August 1929 tauchte er in der Werkstatt auf, gefolgt von einem Wesen, einem tollen Weib, das seine Frau sein musste. Die sonst eher dunkle Werkstatt wurde mit einem Paukenschlag taghell! Prima vista, dachte ich, das ist ja ein phantastischer Schmetterling, der sich hierher verirrt hat. Unter dem weißen Hut kräuselten sich rote Haare, sündig-rote Haare. Mir war so, als ob der vertraute Lärm der Werkstatt plötzlich verstummt sei. Die Räder schienen stillzustehen. Der Schmetterling hatte sich mitnichten verirrt. Weder flatterte er vor Angst, noch fürchtete er sich, gefangen genommen und etwa aufgespießt zu werden. Diese Frau stand da mit einer unglaublichen, selbstsicheren Gelassenheit - superb - , die ich noch nie bei irgendeiner im Leben je gesehen hatte. Das Verrückte war, daß sie es wußte. Sie kannte ihre Magie, wußte, daß alle von ihr angezogen, auf sie zufliegen würden. Schlichter stand hinter ihr und lachte .. 

Offengesagt, ich schaute sie gar nicht an, sondern meine Augen waren schüchtern auf den Boden gedreht und nahmen so nebenbei, verhohlen, zwei schwarze, auf Hochglanz polierte Knopfstiefel wahr, die spitz zuliefen und bleistiftdünne Absätze besaßen. Von unten nach oben hinaufschielend, erfaßte ich allmählich die ganze Gestalt. Sie mag dreißig Jahre alt sein, rechnete ich. Wirklich, alles an dieser Frau, vom kleinen Zeh bis hinauf zum Scheitel, hatte Rasse.“


 

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